Der Fokus dieses Blogs mit dem Titel „Selfleadership und Selbst-Mitgefühl“ richtet sich auf die Beziehungsfähigkeit mittels unserer Selbstregulation – die Gestaltung der Beziehung zu uns selbst, anderen Menschen und zur Welt. Was dazu beiträgt, gute Beziehungen zu gestalten, wird im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Selfleadership ist der englische Begriff für Selbstmanagement und bezeichnet die Kompetenz, mittels Selbstreflexion und geeigneter Selbstregulation die eigenen Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen in eine gewünschte Richtung lenken zu können. Durch eine gute Selbststeuerung kann die persönliche und berufliche Entwicklung weitestgehend unabhängig von äußeren Einflüssen bewusst gestaltet werden.
Welche Bedeutung das Selbst-Mitgefühl als Essenz der Beziehungsfähigkeit in diesem Zusammenhang hat, insbesondere im 21. Jahrhundert, das mit den Herausforderungen der Pandemie, Digitalisierung, des Klimawandels und der sozialen Gerechtigkeit einhergeht und neben vielen Verunsicherungen auch Existenzängste schürt, wird im Folgenden beschrieben.
Größtenteils sind unsere Vorstellungen von Steuerbarkeit und Eindeutigkeit von Anforderungen des beruflichen und privaten Lebens passé, und wir tun gut daran, flexibel mit der Ungewissheit umzugehen. Dafür brauchen wir einen Bewusstseinswandel mit anderen Sicht- und Verhaltensweisen – weg von einer Ich-Kultur mit einem Selbstoptimierungswahn und hin zu einer Wir-Kultur der gemeinsamen und sinnstiftenden Werte trotz aller Verschiedenartigkeit. Wir brauchen den Austausch und die Resonanz, damit wir uns als soziale Wesen begreifen und Brücken der Kooperation bauen können.
Im beruflichen Kontext rücken die Fragen dieser Zeit, die psychische Gesundheit von Mitarbeitenden und die Unternehmenskultur, in den Fokus. Wertschätzung ist nicht mehr ein Blümchenthema, sondern eine der wichtigsten Führungskompetenzen, um Menschen das Gefühl zu vermitteln, gewürdigt zu werden und dazuzugehören. Dabei sind Empowerment, Partizipation und eine konstruktive Fehlerkultur wesentliche Elemente der Wertschätzung.
Doch Wertschätzung ist nicht einfach eine aneignete Technik, sondern steht in Zusammenhang mit unserer Beziehungsfähigkeit. Authentische Wertschätzung beruht auf der Haltung zu uns selbst, anderen Menschen und der Welt gegenüber. Sie zeigt sich in der Art und Weise, wie wir uns in Beziehungen verhalten – wie wir miteinander und uns selbst umgehen.
Wir leben in einer Welt voller Beziehungen – zu unserem Partner, den Kindern, Eltern, Geschwistern, Freunden, Kollegen und zu vielen anderen. Alles in unserem Umfeld steht auf irgendeine Art und Weise miteinander in Beziehung. Soziale Beziehungen sind die elementare Voraussetzung, um überhaupt leben zu können, und haben mit Selbstorganisation zu tun.
Doch was bedeutet diese permanente Verbundenheit, und worauf beruht eigentlich unser Mitgefühl als Kern der Beziehungsfähigkeit?
Dass Menschen soziale Wesen sind, ist hinreichend bekannt. Wir alle kennen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit. Genau betrachtet erleben wir uns erst durch die Beziehung zu anderen Menschen, wie in dem Zitat von Martin Buber „Der Mensch wird am Du zum Ich“ zum Ausdruck kommt.
Die Interaktion mit anderen Menschen und das Wechselspiel in den Beziehungen bewirken einerseits Autonomiestreben durch die Abgrenzung zur Umwelt. Zum anderen können wir durch die Rückmeldungen ein Selbstbild entwickeln. Vereinfacht gesagt entstehen Definitionen von sich selbst, unserem Gegenüber und zu verschiedenen Themen, wenn das Du auf ein anderes Ich trifft, und die Sichtweisen ausgetauscht werden.
Menschen sind zwar autonome Wesen, doch beziehen sie sich wechselseitig aufeinander. Es können gewisse Loyalitäten entstehen. So gesehen bleibt die komplette Eigenständigkeit eine Illusion, egal ob es sich um private oder berufliche Bereiche handelt. Beziehungen sind auch nichts Statisches, denn sie werden innerhalb einer Dynamik immer wieder neu hergestellt. Wir kommunizieren dafür über gemeinsame Interessen und geteilte Werte. Wir handeln jedoch nicht nur auf Grund von Verpflichtungen und gemeinsamen Zielen, sondern auch durch das Gefühl der Verbundenheit und Fürsorge.
Auch wenn noch immer in einigen Arbeitskontexten Gefühle außerhalb der Bürotür und des Unternehmens angesiedelt werden, spielen diese in zwischenmenschlichen Beziehungen eine bedeutsame Rolle. Denn Mitgefühl ist eine zwischenmenschliche Fähigkeit, die Beziehungen stärkt. Mitgefühl ist nicht zu verwechseln mit Mitleid. Mitgefühl geht über das Erkennen des Leides hinaus und bringt neben der zum Ausdruck gebrachten Empathie noch fürsorgliches Verhalten zum Vorschein.
Unser Gehirn ist darauf angelegt, Fürsorglichkeit zu empfinden. Mitgefühl in diesem Sinne bedeutet, wohlwollend mit sich selbst und anderen zu sein. Wir können für einander Verständnis, Geduld und Güte empfinden und entsprechend reagieren. Gerade in der Pandemie-Situation zeigt sich einmal mehr, wie wichtig mentale Unterstützung von Mitarbeitenden ist und eine empathische Führung gewünscht wird, die auch auf die emotionalen Herausforderungen in der Krise eingehen kann. Emotionaler Support macht es für uns leichter, Veränderungsprozesse zu bewältigen.
Für jegliche Weiterentwicklung wird zudem Orientierung gebraucht. Denn wohin wollen wir? Hier kommen die bereits erwähnten Aspekte der Sicherheit und Autonomie wieder ins Spiel, damit Wachstum und Entfaltung stattfinden kann. Wertschätzung und Zugehörigkeit sind die sichere Basis, von der aus wir eigenständig Strategien für die Umsetzung von Zielen entwickeln können. Wer hat es nicht schon erlebt, durch anerkennende Worte zu Neuem beflügelt worden zu sein?!
Dass Weiterentwicklung nicht immer ohne Reibung stattfindet, gehört zu den Erfahrungen, die wir alle machen. Autonomiebestrebungen sind mit dem Bedürfnis nach Geborgenheit in Einklang zu bringen. Aus systemischer Sichtweise kann ein System – und der menschliche Organismus ist ein solches – nur überleben, wenn es einen Sinn bzw. Zweck verfolgt, Grenzen beachtet, sich an Regeln orientiert und im stetigen Austausch mit der Umwelt befindet.
Authentisch zu den eigenen Bedürfnissen und Interessen zu stehen, bedeutet Grenzen zu definieren und wertschätzend Nein zu sagen.
Die Haltung, aus der heraus wir handeln, wirkt sich auf unser Miteinander aus. Was hätte es für Folgen, wenn wir uns wertschätzend begegnen und statt mit Magengrummeln mit Freude unsere Aufgaben verrichten?
Veränderung gelingt umso leichter, wenn wir wissen, wofür wir etwas tun und sowohl das Gemeinsame als auch die Grenzen immer wieder neu aushandeln. Außerdem brauchen wir die Fähigkeit, in uns selbst hineinzuspüren und die empfundenen Emotionen beim Namen zu nennen.
Wenn wir anfangen zu reflektieren, welche Bedürfnisse in einer Situation berührt werden, können wir auch konkreter in die Zukunft gerichtete Bitten und Wünsche äußern. Lassen wir andere daran teilhaben durch einen Austausch, ohne zu belehren oder abzuurteilen. Hören wir uns aufmerksam zu und geben Rückmeldung über das, was wir verstanden haben. Fragen wir uns doch, wofür wir uns einsetzen, welche Ambitionen uns bewegen, und welche Werte uns wichtig sind!
Wenn es uns gelingt mitzuteilen, was wir uns wünschen und aneinander schätzen, steht einer Potentialentfaltung schon viel weniger im Wege. Obendrein können wir noch erkunden, was bereits wodurch gewuppt wurde. Die Reflexion des Erfolges – wer was konkret wozu beigetragen hat – macht uns bewusst, was durch unser Tun und die Kooperation mit anderen möglich wurde.
Eine Erfolgsanalyse soll nicht dem alleinigen Anfeuern dienen, sondern hilft, die zuträglichen Faktoren besser zu verstehen und die Menschen mit ihren Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu rücken. Darüber hinaus sind Fehler als Lernchancen ansehen, falls etwas schief läuft. Bei jeder Fehleranalyse können wir Informationen gewinnen, was wir als nächstes tun können oder bleiben lassen. Danken wir auch denjenigen, die mutiger Weise Fehler kommunizieren. Denn letztlich dienen sie der Weiterentwicklung.
Schließlich ist die Selbstorganisation der Kern zwischenmenschlicher Beziehungen. Unsere Selbstverantwortlichkeit wird gestärkt, wenn wir uns der Gefühle und Bedürfnisse bewusst werden. Gleichzeitig brauchen wir alle immer wieder das Feedback, das auf konkrete Beobachtungen beruht. Wechselseitige Einschätzungen ohne negative Bewertungen oder gar Schuldzuweisungen und der Fokus auf zukünftige Interessen und Ressourcen ermöglichen inneres und äußeres Wachstum.
Denn das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, wächst!
Danken wir uns und anderen – Feiern wir Erfolge! Sich selbst und anderen Menschen zu danken ist eine Art der Wertschätzung, die die intrinsische Motivation fördert. Denken wir daran, dass geteilte Freude doppelte Freude ist. Wann haben wir uns selbst oder anderen das letzte Mal eine „Wertschätzungsdusche“ gegeben?!
Selbstführung ist ein Schlüsselfaktor in der modernen Arbeitswelt. Wer als Führungskraft Verantwortung für Aufgaben und andere Menschen übernimmt, ist aufgefordert, mit den eigenen Kräften gut umzugehen und Vorbild zu sein. Führung beginnt mit Selbststeuerung und beinhaltet eine gute Beziehung zu sich selbst, die auf Mitgefühl beruht. Die Situation und die damit einhergehenden eigenen Befindlichkeiten wahrnehmen und einordnen zu können ist Ausgangspunkt der Selbststeuerung.
Im Leadership ist emotionale Unterstützung mehr denn je gefragt. Wie wichtig die Schaffung eines Bewusstseins für Wertschätzung im Rahmen von Leadership ist, zeigt sich daran, wie viele Mitarbeitende sich ausgebrannt und überfordert fühlen. Erschöpfungssymptomatik und arbeitsbedingte psychische Belastungen führen zu zunehmenden Fehlzeiten und Produktionsausfällen in Betrieben. Die Begegnung auf Augenhöhe, Zuhören können, Trost spenden und Wertschätzung aussprechen gehören mit zu den Kompetenzen, die eine Führungskraft braucht.
Doch Wertschätzung ist keine Formel, die mal eben zum Einsatz kommt. Sie ist eine Haltung, die auf Würdigung, Einfühlungsvermögen, Vertrauen und Achtsamkeit beruht. Und hier heißt es zunächst mal, den eigenen Umgang mit sich selbst zu beobachten. Denn eine wesentliche Bedingung für gelingende Kooperationen im privaten und beruflichen Umfeld ist eine gute Beziehung zu sich selbst und eine wohlwollende Einstellung der Welt gegenüber. Mit der Brille, mit der wir uns selbst betrachten, schauen wir auch andere an. Die Ansprüche, die ich an mich selbst habe, richte ich auch meistens an andere. Gehe ich selbst sehr selbstkritisch mit mir ins Gericht, tue ich dies auch oft mit meinen Mitmenschen. Wie lässt sich dies erklären?
Die hypno-systemische Perspektive sieht in der Selbstorganisation nicht nur eine Interaktion zur Strukturierung bzw. einen Ordnung schaffenden Prozess, sondern bezieht die intrapersonelle Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen mit ein. Muster – auch kollektive – entstehen durch die Beobachtung dessen, was sich bewährt hat und deshalb sinnvoll erscheint. Folglich liegen gute Gründe für unser Denken, Fühlen und Verhalten vor, selbst wenn es uns und anderen nicht immer gleich schlüssig erscheint.
Unsere Verarbeitungsstrategien haben Einfluss darauf, wie wir Situationen wahrnehmen, welche Bedeutung wir ihnen geben, was wir dadurch empfinden und welche Schlussfolgerungen wir dann ziehen, um handlungsfähig zu sein. Jedes Erleben von uns findet in einem Kontext statt und beruht auf Erfahrungen. Gespeist werden diese durch Glaubenssätze und Werthaltungen, die Orientierung geben und der eigenen Identität Sicherheit vermitteln. Eine internale individuelle Erlebnisdynamik entsteht durch das Zusammenwirken der Fokussierung von Aufmerksamkeit und aktivierten neuronalen Netzwerken. Wir erinnern uns: „Energy flows, where attention goes …!“
Die Kommunikation und der Gebrauch der Sprache nimmt Einfluss auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von „Reizen“. Bereits wie wir etwas benennen, hat hilfreiche oder hinderliche Auswirkungen. Und an diesem Musterelement der Benennung können wir genauso arbeiten wie auch an den Erklärungen und den Schlussfolgerungen, die wir aus einem erlebten Ereignis ziehen. Wir geben unserer Wahrnehmung somit eine Bedeutung, die unser Handeln beeinflusst.
Wir können sogar Beschreibungen formulieren, die quasi jeder Veränderungsmöglichkeit im Wege stehen. Da lohnt es sich, die eigenen Zielvorstellungen und Erwartungen an sich selbst in den Fokus zu nehmen. Nützlich sind hier, die Selbstnarrationen und die sogenannten inneren Dialoge ins Bewusstsein zu holen, die unsere Gefühle und unser Denken beeinflussen. Wie sprechen wir mit uns selbst? Reden wir eher aufmunternd und tröstend oder ablehnend und generalisierend mit uns selbst? Spüren wir doch unseren inneren Dialogen mal nach und bemerken, was mehr motivierend wirkt.
Unsere Emotionen spiegeln sich nicht nur in unserem Denken wider, sondern auch in unserem Körper. Sie beeinflussen sowohl unsere Körperhaltung als auch unsere Atmung. Umgekehrt beeinflusst unsere Körperhaltung unsere Emotionen. In diesem Zusammenhang wird vom einem Bodyfeedback gesprochen. Die Embodiment-Forschung hat in verschiedenen Experimenten nachgewiesen, wie sich Körperbewegungen und Gesichtsmotorik auf unsere Einstellungen auswirken. Körper und Psyche stehen in Wechselwirkung. Somit können wir im Rahmen von Selbstmanagement Einfluss auf Stimmung und Denken nehmen. In Bewegung zu kommen, eine aufrechte Körperhaltung egal ob sitzend oder stehend, ein tiefes Atmen in den Bauch und ein Lächeln lohnen sich folglich in vielerlei Hinsicht als Mittel der Selbstregulation in Stressmomenten.
Wenn wir verantwortungsbewusst und sinnorientiert im Privaten oder im Beruf handeln wollen, brauchen wir Selbst-Führungskompetenzen, die auf der Reflexion der Wahrnehmung und dem Verstehen der Verarbeitungsprozesse beruhen.
Tagtäglich verarbeiten wir Sinnesreize und lernen dazu. Unser Gehirn ist in der Lage, sich zu strukturieren und Verbindungen zwischen Nervenzellen herzustellen. Dadurch können wir komplexe Situationen erfassen, verarbeiten und uns mehr oder weniger anpassen. Wir kommen mit Situationen zurecht, weil wir sie mit gespeicherten Informationen verbinden und Schlussfolgerungen für unser Tun ziehen. Hier hat die Bewertung der Situation Einfluss.
Denn in Stresssituationen neigen wir schnell zu negativen Bewertungen, um unser Erleben von Inkompetenz zu kompensieren. Auf kognitiver Ebene werten wir uns oftmals ab, machen anderen Vorwürfe, oder wir finden das Vorgehen falsch. So erzeugen wir allerdings zusätzlichen Stress, da im Gehirn und den endokrinen Organen weitere Hormone und Botenstoffe ausgestoßen werden, die unseren Kreislauf und Muskeltonus beeinflussen. Auf die Gefühle reagiert unser somatisches System – wer kennt sie nicht, die Kopf- oder Rückenschmerzen, die sich bemerkbar machen neben Herzklopfen und Schweißausbrüchen oder dem roten Kopf.
Gesteuert wird dieser Vorgang hauptsächlich durch Gehirnregionen, auf die wir zunächst nicht willentlich Einfluss haben. Die Amygdala im Zwischenhirn wird aktiv und bereitet uns durch die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol auf die Reaktion Kampf, Flucht und Starre vor. Stress, mit den dazugehörenden Gefühlen, entsteht und ist erstmal da. Doch welche alternativen Vorgehensweisen und Perspektiven können entwickelt werden, die für ein positives Selbstbild und unsere Zielvorstellungen nützlicher sind?
Wie oben beschrieben spielt der Fokus der Aufmerksamkeit eine relevante Rolle. Benennung, Beschreibung, Erklärung und Schlussfolgerung wirken sich auf die Aktivierung von neuronalen Netzwerken aus. Statt mit Kritik an uns selbst, unseren Mitmenschen oder der strategischen Umsetzung um uns zu werfen, können wir Selbstmitgefühl lernen und dadurch sowohl unsere Zuversicht als auch unser Selbstvertrauen stärken.
Neben den Selbst-Narrationen hat die Körperhaltung, die Motorik des Gesichtes und der Hände sowie die Atmung ebenso einen bewussten Einfluss darauf, welche neuronalen Netzwerke mehr aktiv werden, und was wir in Folge dessen fühlen und denken. Wie bereits geschildert stehen kognitives, körperliches und emotionales Erleben miteinander in Verbindung und wirken ständig aufeinander ein.
Wir können unser Verhalten leichter einordnen, wenn wir wissen, dass unser menschlicher Organismus auf die Rückmeldungen aus der Umwelt und der eigenen inneren Welt reagiert. Diese Wechselwirkungsprozesse vermitteln uns, was gerade unpassend oder gut geheißen wird. Jede Empfindung, jedes Gefühl, jeder Gedanke und jede Handlung werden bewertet, da dieser Vorgang uns Orientierung in der Welt verschafft.
Das Konzept der „Bezogenen Individuation“ (Helm Stierlin; Gunther Schmidt) ermöglicht, das Autonomiestreben und Bedürfnis nach Zugehörigkeit besser zu verstehen. Denn Menschen brauchen sowohl Autonomie als auch das Gefühl der Sicherheit und Orientierung, um sich optimal entwickeln zu können.
Das menschliche Bedürfnis nach Autonomie (Individuation) und nach Zugehörigkeit (Bezogenheit) sind Bedingungen, die unser Überleben sichern. Diese Bedürfnisse gilt es, ein Leben lang immer wieder auszubalancieren. Denn wir möchten ja zu einer Gruppe dazugehören und unsere Potentiale nutzen, um uns auszuprobieren und eigene Interessen umzusetzen. Bei dieser Logik werden wir immer wieder mit Werten konfrontiert, die in dem Umfeld, in dem wir gerade unterwegs sind, Gültigkeit haben. Somit gibt es gute Gründe, sich so und nicht anders zu verhalten.
Üblicherweise laufen die Prozesse der Bewertung einer Situation eher unbewusst ab, um schlichtweg unser Überleben zu sichern. „Menschen als lebende Systeme sind darauf ausgerichtet zu überleben, sich sicher zu fühlen (Gross, Popper 2020:82).“
Jede Erfahrung, die emotional gefärbt ist, wird in unserem Erlebnisrepertoire abgespeichert und beeinflusst unser Verhalten in Situationen. Relevant ist es, welche Bedeutung wir der Situation geben. Hier kommt unser autonomes Nervensystem ebenfalls ins Spiel. Denn entgegen der Annahme, dass wir Entscheidungen in erster Linie kognitiv treffen, reagiert das Para-Sympathische Nervensystem – wie sowohl die Polyvagal-Theorie von Stephen Proges als auch der Hirnforscher Gerhard Roth darlegen – adaptiv, um uns in Sicherheit zu bringen. Unser Körper entscheidet mittels Neurozeption, was die stimmigste Strategie ist, anstelle von Perzeption durch unseren Verstand.
Unsere Wahrnehmung verändert sich je nach dem, in welchem physiologischen Zustand wir sind. Unser soziales Verhalten hängt davon ab, ob es uns gelingt, eine gute Selbstregulation zu finden, um von einer Abwehrhaltung auf Sicherheit und Zuwendung umzuschalten. Wenn wir unsere Äußerungen beobachten, bekommen wir Auskunft, wie bedrohlich oder sicher wir gerade die Welt erleben. Wie schon ausgeführt, hat die Art der Beschreibung, Benennung, Bewertung und Schlussfolgerung Einfluss auf unsere Verarbeitung und Handlungsoptionen. Wir können mittels unserer Sprache und dem bewussten Einsatz unseres Körpers mehr innere Stabilität oder Instabilität bewirken.
Mitfühlend mit sich zu sein, ist ein relevanter Aspekt, der uns weiterhilft. Selbstmitgefühl versetzt uns in die Lage, gut für uns zu sorgen, so wie wir es für einen geliebten Menschen oder gut Freund tun würden. Stressreaktionen werden nachweislich reduziert, was unserem Sicherheitsbedürfnis zu Gute kommt.
Geht es um das Thema Wertschätzung, stellt sich zunächst die entscheidende Frage, welche Bedeutung wir uns selbst geben. Sich selbst in schwierigen Situationen anzunehmen – die Selbstakzeptanz – ist eine förderliche Alternative im Gegensatz zur Selbstabwertung mit ihren Folgen.
Unseren Freunden gegenüber fällt es in der Regel leicht, Mitgefühl entgegenzubringen. Doch können wir Mitgefühl für uns selbst haben? Selbstmitgefühl zu haben bedeutet, sich wohlwollend zu begegnen wie eben einem besten Freund.
Betrachten wir uns doch mal freundlich mit unseren Stärken und Schwächen! Sagen wir uns mitfühlende Worte, die uns ermuntern und aufrichten! Weisen wir uns gegebenenfalls mal liebevoll in die Schranken, um Überreaktionen zu reduzieren! Erkennen wir an, dass leidvolle Zeiten zum Leben dazu gehören! Nehmen wir uns einfach selbst in den Arm oder klopfen uns auf die Schulter!
Durch diese Herangehensweise können wir leichter zur Ruhe kommen, was sich sogar konkret in körperlich messbaren Veränderungen zeigt. Das Wohlfühl-Hormon Oxytocin sorgt mit dafür, dass sorgenvolle Gedanken abnehmen und das Selbstvertrauen steigt. Wenn wir mitfühlend mit uns selbst sind und gut für uns sorgen, können wir auch gut für andere sorgen. Umfangreiche Studien belegen, wie das seelische Wohlbefinden und zufriedenstellende Beziehungen mit dem Selbstmitgefühl in Verbindung stehen.
Die Beziehung zu sich selbst ist die wichtigste im Leben und spiegelt sich in der Beziehung zu anderen Menschen im privaten und beruflichen Kontext wider. Oftmals glauben wir, es sei egoistisch, nein zu sagen und Grenzen zu setzen. Doch wenn wir unser Wohl im Auge haben und es uns gut geht, dann können wir auch gut für andere sorgen und unsere Aufgaben erfüllen. Bei allen Entscheidungen sind die Fragen handlungsleitend: „Was beobachte ich, was empfinde ich, was will und brauche ich? Welchen Wunsch habe ich an mich selbst und andere?“
Fangen wir an, Selbstfreundlichkeit und Mitgefühl zu kultivieren! Schenken wir uns mehr Anerkennung für die Bemühungen, um zufriedenstellende Beziehungen zu sich selbst und unseren Mitmenschen zu gestalten!
Es sei gesagt, dass es hier weder um Selbstmitleid noch Egoismus geht. Vielmehr steht die Verarbeitung von Reizen aus der inneren und äußeren Welt im Fokus. Dieser Beitrag möchte ein Plädoyer sein für einen achtsamen Umgang mit sich selbst, unseren Mitmenschen und der Zeit. Es geht um die gelebte Selbstfürsorge statt perfektionistische Leistungsansprüche an sich selbst und andere. Selbstreflexion und Selbstregulation ist eine bleibende Aufgabe, um unser kognitives und somatisches System in eine optimale Zusammenarbeit zu bringen und aus Gewohnheiten auszusteigen.
Mitfühlendes Verhalten ist eine wichtige Selbst-Führungsaufgabe. Bevor Entscheidungen getroffen werden ist es sinnvoll zu verstehen, was einen selbst und die Anderen gedanklich und emotional „umtreibt“. Eine empathische und klare Kommunikation über Bedürfnisse und Interessen fördert sowohl das Zusammenleben als auch die Zusammenarbeit.
Schließlich können wir mit einer gelebten Haltung der Wertschätzung und des Mitgefühls viel leichter neue Wege einschlagen und den Moment bewusst gestalten. Wir können die eigene Verunsicherung und unangenehme Reaktionen entspannter handhaben. Wir können uns immer wieder fragen, wie es uns und den anderen wohl geht, was wir brauchen und was gerade realistisch gesehen wohl möglich wäre zu tun. Dies ist gerade in Zeiten von anhaltenden Belastungen nützlich, um Ressourcen zu aktivieren und Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Wir können einen Perspektivenwechsel initiieren, um eine optimale Kooperation zwischen unbewussten und bewussten Prozessen zu erreichen. Denn um Ziele zu erreichen, ist es viel sinnvoller, mitfühlend mit sich selbst und anderen zu sein, statt mit Selbstablehnung und destruktiver Kritik zu reagieren. Entscheidend ist es, bei schwierigen Herausforderungen gut mit sich selbst umzugehen.
Das bedeutet, die Herausforderungen anzunehmen und dabei einen Blick für die eigene Konstruktion der Wirklichkeit auch mittels unserer Sprache zu haben. Des Weiteren ist es sehr nützlich, die gegenwärtige Situation zu akzeptieren, ohne sie gutheißen zu müssen, achtsam für Bedürfnisse zu sein, das momentane Verhalten als Reaktion guter Gründe anzusehen und nach vorne zu schauen, um mittels gegenwärtiger Ressourcen nach möglichen Lösungen zu schauen.
Wir sind zwar stark in unseren Mustern verhaftet. Doch mitfühlend – mit sich selbst und anderen – zu sein und reflektierend innezuhalten, bieten Chancen für Veränderung.
Denn: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“ (Viktor Frankl)
Begeben Sie sich indes auf eine Reise zu sich selbst, um eigene Gedanken und Gefühle steuern zu können. Und Sie können lernen, insbesondere bei dem Erleben von Stress, mehr Mitgefühl auch für sich selbst zu entwickeln.
Wenn Sie mehr über den Umgang mit Herausforderungen in einer beschleunigten Welt durch systemische/s Coaching, Beratung oder Supervision erfahren möchten, können Sie sich weiter auf dieser Website informieren oder setzen sich direkt mit mir in Verbindung.
Abschließend möchte ich Ihnen noch eine Geschichte mit auf den Weg geben. Denn Geschichten transportieren Botschaften. Sie berühren und motivieren uns unmittelbar, da sie verschiedene Regionen in unserem Gehirn aktivieren. Kognitive und emotionale Ebenen werden ebenso angesprochen wie auch unsere Körper bei der Verarbeitung der Informationen der Story reagieren. Geschichten erzeugen innere Bilder und ermöglichen eine Identifikation durch den Bezug auf Erfahrungen und Muster.
Das perfekte Herz
Eines Tages stand ein junger Mann mitten in der Stadt und erklärte, dass er das schönste Herz im ganzen Tal habe.
Eine große Menschenmenge versammelte sich, und sie alle bewunderten sein Herz, denn es war perfekt. Es gab keinen Fleck oder Fehler in ihm. Ja, sie alle gaben ihm Recht, es war wirklich das schönste Herz, was sie je gesehen hatten. Der junge Mann war sehr stolz und prahlte noch lauter über sein schönes Herz.
Plötzlich tauchte ein alter Mann vor der Menge auf und sagte: „Nun, Dein Herz ist nicht mal annähernd so schön wie meines.” Die Menschenmenge und der junge Mann schauten das Herz des alten Mannes an. Es schlug kräftig, aber es war voller Narben, es hatte Stellen, wo Stücke entfernt und durch andere ersetzt worden waren. Aber sie passten nicht richtig, und es gab einige ausgefranste Ecken. An einigen Stellen waren sogar tiefe Furchen, wo ganze Teile fehlten.
Die Leute starrten ihn an. Wie kann er behaupten, sein Herz sei schöner, dachten sie? Der junge Mann schaute auf des alten Mannes Herz, sah dessen Zustand und lachte: „Du musst scherzen”, sagte er, „Dein Herz mit meinem zu vergleichen. Meines ist perfekt und Deines ist ein Durcheinander aus Narben und Tränen.”
„Ja”, sagte der alte Mann, „Deines sieht perfekt aus, aber ich würde niemals mit Dir tauschen. Jede Narbe steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe. Ich reiße ein Stück meines Herzens heraus und reiche es ihnen, und oft geben sie mir ein Stück ihres Herzens, das in die leere Stelle meines Herzens passt. Aber weil die Stücke nicht genau sind, habe ich einige raue Kanten, die ich sehr schätze, denn sie erinnern mich an die Liebe, die wir teilten. Manchmal habe ich auch ein Stück meines Herzens gegeben, ohne dass mir der andere ein Stück seines Herzens zurückgegeben hat. Das sind die leeren Furchen. Liebe geben heißt, manchmal auch ein Risiko einzugehen. Auch wenn diese Furchen schmerzhaft sind, bleiben sie offen, und auch sie erinnern mich an die Liebe, die ich für diese Menschen empfinde, und ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren und den Platz ausfüllen werden. Erkennst du jetzt, was wahre Schönheit ist?”
Der junge Mann stand still da, und Tränen rannen über seine Wangen. Er ging auf den alten Mann zu, griff nach seinem perfekten jungen und schönen Herzen und riss ein Stück heraus. Er bot es dem alten Mann mit zitternden Händen an. Der alte Mann nahm das Angebot an, setzte es in sein Herz. Er nahm dann ein Stück seines alten, vernarbten Herzens und füllte damit die Wunde des jungen Mannes Herzen. Es passte nicht perfekt, da es einige ausgefranste Ränder hatte. Der junge Mann sah sein Herz an, nicht mehr perfekt, aber schöner als je zuvor, denn er spürte die Liebe des alten Mannes in sein Herz fließen. Sie umarmten sich und gingen weg, Seite an Seite.
Gehört bei einem Seminar zum Thema „Yoga und Achtsamkeit“ mit Peggy Böhmer – https://www.vivere-vital.de/das-perfekte-herz/